Beschaffung dringendster Leistungen im Rahmen von Covid-19

Wir haben mit der aktuell andauernden Covid-19-Pandemie eine neu zu beurteilende Situation für eine dringliche Beschaffung von in der Krise besonders rasch benötigen Leistungen. Deshalb ist eine Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Dringlichkeitsbeschaffung wichtig. Dies wird durch die aktuelle Mitteilung der EU-Kommission „Leitlinien der Europäischen Kommission zur Nutzung des Rahmens für die Vergabe öffentlicher Aufträge in der durch die Covid-19-Krise verursachten Notsituation“ (ABl. der EU v. 01.04.2020, C 108 Seite 1 ff.) verdeutlicht. Aber auch die bereits im März veröffentlichten Rundschreiben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) vom 19.03.2020 (Rundschreiben zur Anwendung des Vergaberechts im Zusammenhang mit der Beschaffung von Leistungen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 zu Vergaben während der Corona-Krise) und des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) vom 27.03.2020 (Erlass BW I 7 70406/21#1) zeigen eine Reaktion auf die geänderte Vergabesituation.

Ausgangspunkt

Oft werden bei der Konzeption von Vergabevergaben dringliche, zwingende Gründe angeführt. Diese Gründe sollen dazu führen, dass die zu beschaffenden Leistungen mit einem we-niger streng reglementierten Verfahren oder unter Verkürzung die vorgegebenen Mindestfristen vergeben werden. Die Argumentation für solche Verfahrenserleichterungen gestalten sich außerhalb von Krisensituationen schwierig.

Schwellenwerte für die europaweite Vergabe

Das Vergaberecht sieht für die Beschaffung oberhalb der Schwellenwerte eine Vergabe unter Anwendung der Vergabeverordnung mit klar geregelten Verfahrensarten und -abläufen vor. Die Schwellenwerte für Liefer- und Dienstleistungen betragen dabei zur Zeit EUR 214.000, für Liefer- und Dienstleistungen im Sektorenbereich und im Bereich der Verteidigung und Sicherheit EUR 428.000 und für Liefer- und Dienstleistungen von obersten und oberen Bundesbehörden EUR 139.000. Konzessionsvergaben müssen, da oberhalb des Schwellenwertes, ab EUR 5.350.000 europaweit ausgeschrieben werden. Soziale und besondere Dienstleistungen sind ab einem Auftragsvolumen von EUR 750.000, bei Sektorenauftraggebern ab EUR 1,0 Mio. europaweit zu vergeben.

Bauaufträge sind ab einem Schwellenwert von EUR 5.350.000 europaweit auszuschreiben. Hierfür kommen die Verfahrensvorschriften der VOB/A-EU zur Anwendung.

Vergaben unterhalb der Schwellenwerte sollen hier nicht betrachtet werden. Auch für sie gilt grundsätzlich die Möglichkeit einer beschleunigten Beschaffung bei besonderer Dringlichkeit (§ 8 Abs.4 Nr.9 UVgO; § 3a Abs.3 S.1 Nr.2 VOB/A).

Beschaffung bei äußerster Dringlichkeit

Die Regelungen für die europaweite Vergabe sehen für die Beschaffung bei äußerster oder besonderer Dringlichkeit der zu beschaffenden Leistung Ausnahmen für die Wahl des Vergabeverfahrens vor. So ist ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb (§ 3a VOB/A-EU) zulässig, wenn

„die Leistung besonders dringlich“

ist. Im Bereich der Liefer- und Dienstleistungen sieht § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV die Vergabe mittels eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb vor,

„wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen die Mindestfristen einzuhalten, die für das offene und das nicht offene Verfahren sowie das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschrieben sind; (…)“

Allerdings dürfen

„die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sein.“

In diesem Zusammenhang ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zu beachten. Danach ist die kumulative Erfüllung von drei Voraussetzungen erforderlich:

  1. Es muss ein unvorhergesehenes und vorhersehbares Ereignis vorliegen.
  2. Äußerst dringliche und zwingende Gründe müssen gegeben sein, die die Einhaltung der in anderen Verfahren vorgeschriebenen Fristen unmöglich machen.
  3. Ein Kausalzusammenhang muss zwischen dem unvorhersehbaren Ereignis und den dringlichen Gründen/Unmöglichkeit der Einhaltung der vorgeschriebenen Frist bestehen.
    (EuGH 10.03.1987 – C-199/85; EuGH 02.08.1993 – C-107/92; EuGH 28.03.1996 – C-318/94)

Wesentlich ist, dass die derzeitige Infektionslage weiterreichende Spielräume für die Vergabe eröffnet:

Ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb bei äußerster Dringlichkeit bedeutet, dass nicht zunächst eine Vorauswahl unter den interessierten Unternehmen in einem vorgeschalteten Wettbewerb erfolgt. Vielmehr kann der Auftraggeber das Verhandlungsverfahren unmittelbar mit nur einem Bieter durchführen.

  • Von einer äußersten Dringlichkeit aus zwingenden Gründen ist auszugehen, wenn akute Gefahrensituationen und höhere Gewalt vorliegen. Diese Gründe erfordern zur Vermeidung von Schäden für Leib und Leben der Allgemeinheit ein sofortiges, die Einhaltung von Fristen ausschließendes Handeln. Bildlich gesprochen liegt ein solches unvorhergesehenes Ereignis vor, wenn es unversehens „brennt“ und der Auftraggeber das „Feuer“ zu löschen hat (VG Würzburg, Urteil vom 18.03.2019 – 8 K 18.1161). Während der andauernden Covid-19-Pandemie sieht sich der Auftraggeber einer akuten Gefahrsituation aufgrund höherer Gewalt gegenübergestellt. Dies konnte man in der vorliegenden Geschwindigkeit nicht kommen sehen.
  • In dieser Situation ist zweifellos zur Vermeidung von Schäden für Leib und Leben (weiterer Infektionen und Erhöhung der Zahl der Todesfälle) ein sofortiges Handeln zur Organisation und Beschaffung im Health Care Bereich, im Bereich der erforderlichen Logistik für den Krankenhaus- und Pflegebereich (IT-Systeme zur Darstellung von Kapazitäten) zu fordern. Die Durchführung einer Vorauswahl unter interessierten Unternehmen (Teilnahmewettbewerb) Einhaltung der Fristen anderer Verfahrensarten wäre in dieser Situation für die genannten Leistungen vielfach nicht möglich.
  • Das unvorhersehbare Ereignis der Pandemie ist ursächlich für die Notwendigkeit, die Fristen nicht einhalten zu können. Dies bedeutet, dass die Voraussetzungen für ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vorliegen.

Bisher wurde eine äußerste Dringlichkeit und eine Vergabe im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb etwa bei vorliegender Terrorgefahr bejaht (VK Sachsen, Beschluss vom 17.06.2010 – 1/SVK/011-16).

Welche Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von einer solchen Dringlichkeitsbeschaffung aufgrund der Covid-19-Pandemie noch umfasst sein können, ist selbstverständlich für den Einzelfall zu prüfen.

Beschaffung bei Dringlichkeit

Bei bloßer hinreichend begründeter (einfacher) Dringlichkeit können die ansonsten einzuhaltenden Mindestfristen in § 15 bis 17 VgV für Liefer- und Dienstleistungen und in § 10a bis § 10c VOB/A-EU für Bauleistungen eingeschränkt werden, das heißt verkürzt werden.

Die Mindestfristen betreffen die Abgabe des Angebotes und Vorinformation vor Versenden der Auftragsbekanntmachung (§ 10a VOB/A-EU) beim offenen Verfahren. Bei dem nicht offenen Verfahren gemäß § 10b VOB/A-EU wird noch im Falle der Dringlichkeit ermöglicht, die Frist zur Einreichung der Teilnahmeanträge zu verkürzen.

Eine Verkürzung der Mindestfristen haben die am Auftrag interessierten Unternehmen dann hinzunehmen, wenn der öffentliche Auftraggeber die Eilbedürftigkeit der Beschaffung hinreichend begründen kann. Dabei steht dem Auftraggeber ein Beurteilungsspielraum zu. Die Ausübung des Beurteilungsspielraums ist im Wesentlichen nur auf zwei Aspekte hin zu über-prüfen: Hat der Auftraggeber die Entscheidung auf der Grundlage eines zutreffend ermittelten Sachverhalts getroffen? Wurde die Entscheidung willkürfrei und in Übereinstimmung mit den hergebrachten Beurteilungsgrundsätzen begründet? (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 10.06.2015; Verg 39/14)

Im Ergebnis lassen sich in der aktuellen Situation aufgrund der Covid-19-Pandemie durchgreifende Argumente für die Verkürzung der Mindestfristen für alle Liefer- und Dienstleistungen, aber auch Bauleistungen im Zusammenhang mit der erforderlichen medizinischen Versorgung, sowie der notwendigen Grundversorgung der Bevölkerung und deren Arbeitsfähigkeit (IT-Dienstleistungen) anführen.

Mitteilung der EU-Kommission (2020/C 108 I/01) vom 01.04.2020

Die Europäische Kommission greift die Notwendigkeit schneller und intelligenter Lösungen sowie die erforderliche Flexibilität bei der Beschaffung dringender Leistungen in ihrer Mitteilung vom 01.04.2020 auf. Die Kommission hebt hervor, dass die öffentlichen Auftraggeber in den Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass persönliche Schutzausrüstungen wie Gesichtsmasken und Schutzhandschuhe, Medizinprodukte (insbesondere Beatmungsgeräte) und an-dere medizinische Ausrüstung, aber auch Krankenhaus- und IT-Infrastrukturen zur Verfügung stehen.

Die Kommission unterstreicht in Ziffer 2.2 ihrer Mitteilung vom 01.04.2020 die verkürzten Fristen in Fällen von Dringlichkeit, wie sie oben dargestellt wurden und listet diese für die einzel-nen Verfahrensarten auf.

Unter Ziffer 2.3 der Mitteilung vom 01.04.2020 geht die Kommission ausführlich auf die Möglichkeit eines Verhandlungsverfahrens ohne Veröffentlichung für besonders dringliche, aber nur temporäre Beschaffungen ein. Die folgenden Kriterien müssen für die Durchführung eines Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung – auch unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (siehe z.B. Rechtssache C-275/08 Kommission gegen Deutschland) kumulativ erfüllt sein:

  • Ereignisse, die die betreffenden öffentlichen Auftraggeber nicht voraussehen konnten;
  • Zwingende Dringlichkeit, die eine Einhaltung der allgemeinen Fristen nicht zulässt;
  • Kausalzusammenhang zwischen dem nicht voraussehbaren Ereignis und der zwingenden Dringlichkeit und
  • Maßnahmen lediglich zur Überbrückung bis langfristigere Lösungen verfügbar sind.

Beim „Verhandlungsverfahren ohne Veröffentlichung“ können öffentliche Auftraggeber direkt mit potentiellen Auftragnehmern verhandeln. Eine direkte Vergabe des Auftrags an einen vor-ab ausgewählten Wirtschaftsteilnehmer ist jedoch ausschließlich dann möglich, wenn nur ein Unternehmen in der Lage sein wird, den Auftrag unter den durch die zwingende Dringlichkeit auferlegten technischen und zeitlichen Zwängen zu erfüllen.

Rundschreiben des BMI vom 27.03.2020

Das BMI erließ am 27.03.2020 ein Rundschreiben (Erlass BW I 7 70406/21#1). In diesem Rundschreiben wird in Ziffer I. festgehalten, dass ausschreibungsreife Leistungen weiterhin zu vergeben sind. Zudem seien Planungen fortzusetzen und weitere Bauvorhaben zur Ausschreibung zu führen. Damit wird sichergestellt, dass weiterhin, auch während der Pandemie, Vergabeverfahren vorbereitet und auf den Weg gebracht werden.

Unter Ziffer II. legt das BMI in dem Rundschreiben fest, es sollten die Hinweise des BMWi aus dessen Rundschreiben zur Erleichterung der Beschaffung dringendster Leistungen auch für Bauaufträge, die der Eindämmung der Covid-19-Pandemie dienen, gelten. Beispielhaft werden die folgenden Bauleistungen genannt:

  • Kurzfristige Schaffung zusätzlicher Kapazitäten im Krankenhausbereich,
  • Umbauten und Ausstattung zur Erhöhung der Anzahl von Videokonferenzen,
  • Einbau von Trennwänden zur Separierung mehrfach belegter Büros.

Das Rundschreiben des BMI enthält ferner Hinweise zum Umgang mit Bauablaufstörungen, zur Vorlage aktueller Bescheinigungen, zu Angebots- und Vertragsfristen, zum Eröffnungstermin entsprechend § 14a VOB/A und zu Vertragsstrafen.

Rundschreiben des BMWi vom 19.03.2020

Das BMWi hatte bereits am 19.03.2020 ein Rundschreiben zur Anwendung des Vergabe-rechts im Zusammenhang mit der Beschaffung von Leistungen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 herausgegeben.

Mit dem Rundschreiben vom 19.03.2020 (Rundschreiben zur Anwendung des Vergaberechts im Zusammenhang mit der Beschaffung von Leistungen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 zu Vergaben während der Corona-Krise) informiert das BMWi über die großen Herausforderungen für die schnelle und effiziente Durchführung von Vergabeverfahren zur Beschaffung von Leistungen zur Eindämmung der Pandemie.

Dokumentationspflichten einhalten

Unerlässlich ist trotz der dargestellten Erleichterungen bei einer Beschaffung von Leistungen im Falle der äußersten oder hinreichend begründeten Dringlichkeit, die einzelnen Schritte der Vergabe zu dokumentieren. Die Dokumentationspflichten ergeben sich für eine europaweite Vergabe aus § 8 VgV bzw. § 20 EU-VOB/A. Nach § 8 VgV dokumentiert der Auftraggeber das Verfahren von Beginn an fortlaufend in Textform nach § 126b BGB, soweit dies für die Begründung von Entscheidungen auf jeder Stufe des Verfahrens erforderlich ist.

Der Vergabevermerk umfasst mindestens die Umstände, die die Wahl des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb rechtfertigen, § 8 Abs.2 Nr.7 VgV. Ebenso wird in der Mitteilung der EU-Kommission vom 01.04.2020 betont, die Wahl des Verhandlungsverfahrens ohne Veröffentlichung sei in einem Vergabevermerk zu begründen. Auch sind die Gründe für verkürzte Mindestfristen zu dokumentieren. Bei fehlender oder ungenügender Dokumentation droht eine spätere Angreifbarkeit in einem möglichen Rechtsschutzverfahren. Bei Einsatz von Fördermitteln bzw. Beihilfen steht für den Fall unzureichender Dokumentation ein Widerruf deren Bewilligung sowie eine Rückforderung der bewilligten Mittel zu fürchten.

Fazit

Im Falle einer äußersten Dringlichkeit stellt die dargelegte mögliche Beschaffung mittels eines Vergabeverfahrens ohne Veröffentlichung einen zügigen, zeitlich stark verkürzten Vergabemechanismus dar. Bei einer Reihe von Beschaffungen werden die Mindestfristen der einzelnen Verfahren begründbar reduziert werden können. Es ist jeweils die Betrachtung der einzelnen, zu beschaffenden Leistung für die Beurteilung notwendig. Die Dokumentationspflichten müssen unbedingt im Blick behalten werden.

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